Keine Unterlassung ohne Erkennbarkeit – LG Berlin schützt Medienfreiheit bei Berichten über „Führungsspitze“

Das Landgericht Berlin (27. Zivilkammer) hat mit Beschluss vom 4. September 2025 entschieden, dass ein Unterlassungsanspruch wegen einer angeblichen Persönlichkeitsrechtsverletzung durch eine Presseberichterstattung nicht besteht, wenn die Betroffenen aus dem Beitrag nicht hinreichend identifizierbar sind. Die Entscheidung stärkt die Pressefreiheit und grenzt sie zugleich gegenüber Persönlichkeitsrechten klar ab.

Hintergrund des Falls

Mehrere Antragsteller wandten sich im einstweiligen Verfügungsverfahren gegen einen Pressebericht, der sich mit einer „finanziellen Schieflage“ des Versorgungswerks einer Kammer befasste. In dem Bericht wurde von angeblichen Verfehlungen innerhalb der „Führungsspitze“ des Versorgungswerks gesprochen. Die Antragsteller, frühere Mitglieder eines Ausschusses des Versorgungswerks, sahen sich durch diese pauschale Darstellung identifiziert und in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzt.

Die Entscheidung des Gerichts

Das LG Berlin wies den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurück. Entscheidend war für das Gericht, dass die Antragsteller durch die Berichterstattung nicht individuell und unmittelbar betroffen waren. Denn:

  • Der Begriff „Führungsspitze“ wurde nicht näher konkretisiert.
  • Es fehlten jegliche individualisierende Angaben wie Namen, Alter, Funktion oder sonstige persönliche Merkmale.
  • Das Versorgungswerk verfügt über mehrere Gremien mit zahlreichen Mitgliedern, wodurch eine eindeutige Zuordnung der genannten Vorwürfe zu den Antragstellern nicht möglich war.

Selbst ein begrenzter Leserkreis könne die Antragsteller nicht mit der erforderlichen Sicherheit identifizieren. Das Gericht stellte klar, dass auch Sonderwissen einzelner Rezipienten (etwa aus dem persönlichen Umfeld der Betroffenen) nicht ausreicht, um eine äußerungsrechtlich relevante Erkennbarkeit zu begründen. Andernfalls wäre nahezu jede anonymisierte Berichterstattung angreifbar – ein unzulässiger Eingriff in die Pressefreiheit.

Öffentliches Interesse überwiegt

Das Gericht betonte zudem, dass ein überragendes öffentliches Interesse an der Berichterstattung über die wirtschaftliche Lage eines berufsständischen Versorgungswerks besteht. Die Presse durfte über die internen Missstände berichten, zumal die Informationen auf wahren Tatsachen basierten. Auch eine unzulässige Verdachtsberichterstattung lag nicht vor, weil die journalistische Darstellung auf konkreten, nicht widerlegten Tatsachengrundlagen beruhte.

Fazit für Unternehmer und Medien

Diese Entscheidung verdeutlicht erneut, dass für einen rechtlich erfolgreichen Angriff auf Medieninhalte eine eindeutige persönliche Identifizierbarkeit notwendig ist. Unternehmen, Funktionsträger oder Ausschussmitglieder, die sich durch pauschale Kritik in Presseberichten getroffen fühlen, müssen darlegen können, dass sie für die Leserschaft klar erkennbar sind. Andernfalls genießen Medien weitgehenden Schutz durch die Meinungs- und Pressefreiheit.


Gericht: Landgericht Berlin (27. Zivilkammer)
Datum: 04.09.2025
Aktenzeichen: 27 O 285/25 eV
Fundstelle: GRUR-RS 2025, 22735

BGH zur Bildberichterstattung im Wirecard-Skandal: Wenn ein Bild (doch) mehr sagt als tausend Worte

Im Zentrum der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 27. Mai 2025, AZ: VI ZR 337/22, steht die Frage, ob ein Nachrichtenmagazin während eines laufenden Strafverfahrens das Foto eines Beschuldigten veröffentlichen darf. Anlass war ein SPIEGEL-Bericht über den Wirecard-Skandal, der mit einem unverpixelten Portraitfoto des ehemaligen Managers Oliver Bellenhaus bebildert war. Dieser hatte in der Vergangenheit die Wirecard-Tochtergesellschaft „CardSystems MiddleEast FZ-LLC“ geleitet, die eine zentrale Rolle in dem milliardenschweren Bilanzbetrug spielte.

Vorinstanzen: Bildberichterstattung zunächst untersagt

Das Landgericht München I und später das Oberlandesgericht München untersagten die Veröffentlichung des Fotos. Zwar erkannten beide Gerichte an, dass eine Namensnennung in einer Verdachtsberichterstattung zulässig sei, verneinten jedoch ein öffentliches Interesse an der bildlichen Identifizierung des Klägers. Sie betonten insbesondere die Gefahr einer Prangerwirkung und die Bedeutung der Unschuldsvermutung.

BGH: Öffentlichkeitsinteresse überwiegt im Einzelfall

Der Bundesgerichtshof hob diese Entscheidungen auf. Die Richter stellten klar, dass im vorliegenden Fall das Informationsinteresse der Öffentlichkeit das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers überwiege. Der Wirecard-Skandal sei eines der größten Wirtschaftsverbrechen der Nachkriegsgeschichte und habe weit über den Finanzsektor hinaus politische und gesellschaftliche Relevanz entfaltet. Die Medienberichterstattung über zentrale Akteure sei daher von erheblichem öffentlichem Interesse.

Rolle des Klägers und freiwilliger Gang in die Öffentlichkeit

Besonders bedeutsam war für den BGH, dass der Kläger selbst die Öffentlichkeit suchte. Er hatte sich nicht nur freiwillig den Ermittlungsbehörden gestellt, sondern trat auch als Kronzeuge auf und entschuldigte sich öffentlich vor dem Bundestags-Untersuchungsausschuss. In dieser Situation könne sich der Kläger nicht auf einen vollständigen Schutz vor identifizierender Bildberichterstattung berufen.

Keine Verletzung berechtigter Interessen

Auch das konkrete Foto sah der BGH als unbedenklich an. Es handelte sich um eine sachliche Portraitaufnahme aus dem Jahr 2006, die keine entwürdigende oder verfälschende Wirkung entfaltete. Zudem hatte der Kläger ein vergleichbares Bild bereits selbst in einer Unternehmensbroschüre veröffentlicht. Eine zusätzliche Stigmatisierung durch die Veröffentlichung im SPIEGEL sei daher nicht anzunehmen.

Bedeutung für die Praxis: Pressefreiheit gestärkt

Die Entscheidung hat weitreichende Bedeutung für Medienunternehmen, aber auch für Betroffene von Strafverfahren. Der BGH stellt klar: Auch während laufender Ermittlungen kann die Veröffentlichung eines unverpixelten Fotos zulässig sein – jedenfalls dann, wenn ein überragendes Informationsinteresse besteht, die Berichterstattung sachlich ist und der Betroffene bereits selbst in die Öffentlichkeit getreten ist.


Gericht: Bundesgerichtshof
Entscheidung vom: 27. Mai 2025
Aktenzeichen: VI ZR 337/22